Zu wenig Zeit für den Patienten?
Heidelberg, 30.11.2018: Vor einem Jahr hat das British Medical Journey eine Metastudie veröffentlicht, die zeigte, wie viele Minuten sich Hausärzte Zeit für ihre Patienten nehmen (können) – und zwar weltweit. Deutschland liegt mit knapp siebeneinhalb Minuten ziemlich genau in der Mitte aller 62 untersuchten Länder. In Schweden, den USA und der Schweiz haben Ärzte hingegen fast dreimal so viel Zeit, um sich ein Bild vom Gesundheitszustand ihrer Patientinnen und Patienten zu machen. Wir haben nun, ein Jahr danach, eine kleine Stichprobe gemacht: Wie ist die Situation in der Praxis tatsächlich? Und: Bieten Ärzte zu wenige Sprechstunden an, wie ein neuer Gesetzesentwurf unterstellt?
„Zeit ist enorm wichtig“, sagt Dr. med. Berthold Musselmann aus Wiesloch bei Heidelberg (Baden-Württemberg). „Ich muss mir als Arzt die gesamte Krankheitsgeschichte eines Patienten anhören, und das kann durchaus einmal 30 Minuten dauern. Erst dann kann ich Zusammenhänge erkennen, die bei einer oberflächlichen Betrachtung unerkannt bleiben“, so der Naturheilmediziner. „Manche Patienten laufen jahrelang von Arzt zu Arzt, erhalten aber nicht die passende Diagnose und nehmen eventuell sich widersprechende Medikamente ein, dabei kann man oft mit einer profunden Diagnose fünf Probleme auf einmal lösen.“
Zu wenig Kassensitze für Psychotherapeuten
Der Ärztliche Direktor von phytodoc.de hätte also gerne noch mehr Zeit für seine Patienten – dabei arbeitet er schon teils über 60 Stunden pro Woche, oft bis an die Belastungsgrenze. Dr. med. Ulrike Husmann aus Stuttgart (Baden-Württemberg) versteht die Unterstellung, Ärzte würden zu wenige Sprechstunden anbieten, ebenfalls nicht: „Ich arbeite etwa 35 bis 40 Stunden direkt am Patienten, dazu habe ich die Pflicht, 200 Minuten Telefonsprechstunden einzurichten – von daher fühle ich mich nicht betroffen.“
Die Ärztin arbeitet in ihrer Praxis hauptsächlich psychotherapeutisch – „und dort ist die Nachfrage horrend hoch!“ Es gibt viel zu wenig Kassensitze, ein halbes Jahr Wartezeit auf einen Termin ist für die Patienten leider die Regel – „besonders in ländlichen Bereichen“, so Dr. Husmann. Bundesverband der Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen halten Stuttgart für überversorgt – worüber Dr. Ulrike Husmann nur den Kopf schütteln kann: „In keiner deutschen Stadt und auf dem Land werden die tatsächlichen Bedürfnisse befriedigt. Dabei gibt es jede Menge gut ausgebildete Psychotherapeuten, die auf Kassenzulassungen warten – aber die Töpfe sind leider angeblich leer.“
Wohlfühlfaktor in der Praxis ist wichtig
Der Allgemeinmediziner Dr. Hein Reuter aus Bad Homburg (Hessen) hat daher schon vor über 30 Jahren auf die Kassenzulassung verzichtet und lebt seitdem seine Vision vom „freien Arztberuf“. Eine minutiös durchgeplante Praxis verschafft ihm Raum für seine Patienten: „Zuhören, auch wenn es Zeit kostet, ist die Voraussetzung für das therapeutische Bündnis.“ Wenn er Krebskranke begleitet oder anderen chronisch Kranken hilft, dann „ohne Druck und ohne Zeigefinger“ – parallel zur klinisch indizierten Therapie. „Der Wohlfühlfaktor in der Praxis, das Setting, das Betriebsklima ist so individuell wie beim Lieblingsrestaurant oder Friseur“, sagt der Allgemeinmediziner. Für diesen Wohlfühlfaktor müssen Ärzte und Praxispersonal gemeinsam Sorge tragen, damit sich die Patienten ernst genommen, wertgeschätzt und geborgen fühlen. Zeit aber kostet Geld. „Das muss im Vorgespräch geklärt und vereinbart werden.“ Wer sich nur mal schnell krankschreiben lassen möchte, ist bei Dr. Reuter an der falschen Adresse.
Arbeitsbelastung ist deutlich gestiegen
Allgemeinmediziner Dr. med. Martin Wörffel aus Braunschweig (Niedersachsen) unterstützt hingegen die Forderung der Gesundheitspolitik, die Zahl der Sprechstunden von 20 auf 25 pro Woche für Kassenärzte zu erhöhen. „Das ist für mich kein Thema, da wir sowieso mehr als 25 Stunden Sprechzeiten anbieten.“ Er kenne aber viele Facharztpraxen und Psychotherapeuten, die nicht ausreichend Sprechzeiten anböten – entweder, um mehr Privatsprechstunden anzubieten, oder weil Kassensitze nur halb oder Teilzeit besetzt seien. „Insofern ist hier eine Änderung sinnvoll.“
Das eigentliche Problem sei die stetig steigende Bürokratie: „Ich arbeite seit 20 Jahren in eigener Praxis. Ich kann definitiv sagen, dass die Arbeitsbelastung durch Verwaltungstätigkeiten deutlich gestiegen ist“, so Dr. Wörffel. „Ich habe tatsächlich Sprechzeiten etwas eingeschränkt, um der Arbeitsbelastung Herr zu werden.“ Es gäbe zu viele Neuregelungen, die nicht sinnvoll seien und kein Nutzen erkennbar sei – „oder die Patienten einfach Nullkommanull davon profitieren.“ Dr. Wörffel nennt die ICD Erfassung, Mortalitätsstrukturen oder „die unsägliche Geriatrieverordnung“. Ein Befund, den Dr. Ulrike Husmann teilt: „Der Verwaltungsaufwand ist immens hoch, in den Jahren gewachsen. Wir hatten im Jahre 2017 eine Psychotherapiereform, seitdem ist der Papierkrieg noch viel schlimmer geworden.“ Mit der logischen Folge, dass die Zeit für die Patienten immer weiter schrumpfe.
Mehr Anreize für den Arztberuf
Hohe Arbeitsbelastung, zu viel Bürokratie und zu wenig Zeit für die Patienten – das ist das Fazit, das auch viele angehende Medizinerinnen und Mediziner vor dem Arztberuf und vor allem der eigenen Hausarztpraxis zurückschrecken lässt. „Eine optimale Situation wäre, dass genug Ärzte in Deutschland vorhanden sind und die Anreize, einen Arztberuf zu ergreifen, ausreichend gegeben sind. Das sind nicht nur finanzielle Anreize, sondern auch viel weniger Verwaltungsaufwand“, so Dr. Husmann aus Stuttgart. Dr. Wörffel hält Kritik am Gesundheitssystem für falsch: „Insgesamt finde ich in Deutschland: Jammern auf hohem Niveau!“ Es gäbe kaum ein Land, in dem Menschen so oft zum Arzt gingen. „Ich kann auch nicht finden, dass es keinen Platz für wichtige Gespräche gibt.“
Es stellt sich aber die Frage, warum so viele Patienten jahrelang von keinem Arzt richtig angehört werden und wichtige Diagnosen und Erkrankungen so oft nicht erkannt werden. Wir haben zwar, so konstatiert Dr. Musselmann, ein sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem – die Ressourcen seien jedoch falsch verteilt. Die Medizin sei sehr techniklastig, Gespräche kämen zu kurz. Und viele Ärzte beschränkten sich viel zu sehr auf enge Fachgebiete, ohne den ganzen Patienten anzuhören und zu untersuchen, so Dr. Berthold Musselmann: „Die 25-Stunden-Idee ist wie so vieles populistisch. Es wird vorgespiegelt, dass hierdurch mehr Ressourcen für Patienten freigesetzt würden. Das ist nicht der Fall“. Mehr als arbeiten könnten Ärzte nicht, so der Ärztliche Direktor von phytodoc.de. Und die, die nicht so viel arbeiten können und wollen, werden auch dadurch nicht mehr arbeiten.
„Junge Ärzte aber, die mehrheitlich in Teilzeit arbeiten wollen, schreckt das eher ab“, so Dr. Musselmann. „Es ist nichts gegen weniger Arbeitszeit pro Arzt einzuwenden, wenn dafür eine hohe Motivation und Freude bei der Arbeit einkehren. Nur gesunde, selbstachtsame Ärzte therapieren gut und haben die Kraft, ihre Patienten wirklich wahrzunehmen.“
Als versöhnlichen Abschluss zitiert Dr. Hein Reuter seinen Freund Professor Mathias Dorcsi, der einmal gesagt hat: „Wenn der Patient bei der ersten Begegnung nicht einmal geweint und wenigstens einmal gelacht hat, dann ist etwas schiefgelaufen.“
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